Erzählungen
Autor: Ralf Schwob
Veröffentlichung: 2020
Justus von Liebig Verlag, Darmstadt
136 Seiten, 14.80 EUR
ISBN 978-3-87390-439-2
GHL-Nr.: 131
Der Anfang. Das Ende. Und alles, was dazwischenliegt. In Ralf Schwobs Erzählungen geht es um Schlüsselerfahrungen menschlicher Existenz. Die jugendlichen Protagonisten seiner Coming-of-Age- Geschichten erzählen von der ersten großen Liebe, von enttäuschter Freundschaft und der Entzauberung der Eltern sowie von der unausweichlichen ersten Begegnung mit dem Tod. Aber auch die erwachsenen Erzähler in Schwobs Geschichten erweisen sich als äußerst erschütterbare Existenzen: Jemand verliert sein Gedächtnis und findet nicht mehr in sein altes Leben zurück, ein Mann erweist seinem Bruder einen heiklen Liebesdienst, ein Paar fährt einen Hund an und wird dadurch auf die eigene Leidensgeschichte zurückgeworfen …
Dieser Band versammelt 19 teilweise preisgekrönte Erzählungen des Autors aus den Jahren 2000 bis 2018.
Seemannsköpper
Steffen ist runter. Gestern Nachmittag. Im Seemannsköpper vom Zehner. Sogar die Kichertussis, die immer hinten am Geländer stehen, hätten applaudiert, sagt Torsten. Wo warst du eigentlich gestern?, fragt er. Kein Bock gehabt, lüge ich.
Gestern musste ich meinem Vater helfen, den schweren Schreibtisch und ein paar andere Möbel zu transportieren. Im Treppenhaus setzte ich die Kante der Schreibtischplatte voll gegen die Wand und mein Vater holte tief Luft und lief puterrot an, aber dann entspannte er sich wieder und sagte nur leise: Pass einfach besser auf, ja? Unten luden wir die Möbel in einen kleinen Transporter, den er sich für den Nachmittag von einem Kollegen geliehen hatte. Als wir fertig waren, schrieb er mir seine neue Adresse auf. Ich wusste nicht, ob ich ihn zum Abschied umarmen oder ihm nur die Hand geben sollte, und weil er das anscheinend auch nicht wusste, nickten wir uns nur zu, bevor er in den Wagen stieg und davonfuhr. Oben in der Wohnung waren jetzt überall helle Flecken und Druckstellen auf dem Teppich, wo zuvor die Möbel gestanden hatten. Als meine Mutter später nach Hause kam, ging sie mit einer Liste durch alle Zimmer. Er hat nur mitgenommen, was ihr verabredet habt, sagte ich, und meine Mutter sah mich an und sagte: Das will ich ihm auch geraten haben.
Steffen ist runter, sagt Dinah und blinzelt in die Sonne. Schon gehört, sage ich, und jetzt? Ich lege mich neben Dinah auf die Decke. Sie ist allein, die anderen sind im Wasser oder auf dem Turm. Nichts jetzt, sagt sie, mach’ dir doch keinen Druck. Mach’ ich auch nicht, sage ich und Dinah lächelt.
Auf dem Küchentisch liegt ein Zettel mit einer Telefonnummer in Mutters Handschrift. Daneben eine Stange Billigzigaretten und eine handvoll Kleingeld. Essen ist in der Mikro, ruft sie aus dem Bad. Ich werfe die Tasche mit den Schwimmsachen in mein Zimmer und gehe zu ihr. Sie sitzt auf dem Wannenrand und lackiert sich die Fußnägel. Ich weiß nicht, ob sie das schon früher immer gemacht oder jetzt erst damit angefangen hat. Und? Schönen Tag gehabt?, fragt sie, ohne mich dabei anzusehen. Seit wann rauchst du wieder?, frage ich zurück, und da hält meine Mutter kurz inne und sieht mich erstaunt an: Geh’ mir jetzt bitte nicht auf die Nerven, ja? Später liege ich auf meinem Bett und denke an den Nagellack. Es ist dasselbe grelle Rot, mit dem sich einige Mädchen aus meiner Schule in diesem Sommer die Fußnägel bemalen. Aber nicht Dinah. Dinah findet Nagellack albern. Schon allein wegen der blöden Kichertussis vom Sprungturm.
Ich bin runter, sagt Steffen und die Erleichterung ist ihm noch Tage danach ins Gesicht geschrieben. Er steht vor mir in der Warteschlange am Kassenhäuschen und zählt sein Geld. Glückwunsch, sage ich und Steffen nickt. Ist eigentlich gar kein Ding, sagt er, man darf nur nicht zuviel dabei denken.
Mein Vater ist unrasiert und hat einen großen weißgrauen Kleisterfleck auf seinem Business-Hemd. Komm rein, sagt er, komm rein. Die Wohnung ist viel kleiner als ich sie mir vorgestellt habe. Die Couchgarnitur aus unserem Esszimmer und Vaters großer Schreibtisch, auf dem noch drei halbausgepackte Pappkartons stehen, füllen fast das ganze Wohnzimmer aus. Im kleineren der beiden Zimmer liegt eine Matratze mit zerwühltem Bettzeug auf dem Boden und Vaters Anzüge hängen daneben auf einer fahrbaren Kleiderstange. Er sieht mich an und zuckt mit den Achseln: Bin noch nicht ganz fertig geworden. Anschließend fahren wir in den Baumarkt, und danach lädt er mich zum Essen ein. In der Pizzeria sind wir die einzigen Gäste, es ist noch viel zu früh. Vater bestellt sofort für jeden von uns ein Bier. Als er sieht, dass ich nur zögerlich an dem Glas nippe, lächelt er und sagt, ich solle mir ruhig etwas anderes bestellen, und zieht das Glas zu sich rüber. Als die Bedienung wieder an unseren Tisch kommt, sieht er mich fragend an. Eine Cola, sage ich.
Ich bin noch nicht runter. Natürlich sagt das keiner. Aber alle wissen es. Mann, scheiß’ doch drauf, sagt Torsten, für den Kinderkram sind wir doch eigentlich eh schon viel zu alt. Klar doch, sage ich, klar doch. Torsten hat gut reden. Er war der Erste, der in diesem Sommer gesprungen ist.
Jeden Samstag dasselbe: Die Mädchen tanzen und die Jungs stehen dumm rum. Torsten beugt sich zu mir rüber und versucht mir was zu erzählen, aber die Musik ist zu laut. Noch vor zwölf hauen wir von der Party ab, klettern über den Zaun des Schwimmbads und ziehen uns alles aus. Torsten hat Nadja überredet und Dinah mich. Vom Dreier ins schwarze Wasser dauert es eine Ewigkeit, Torsten macht den Affen und zerrt Nadja an den Beckenrand, Dinah ist schon abgetaucht. Später, nebeneinander im nachtkühlen Gras liegend, die Arme unter dem Kopf gekreuzt und den Blick in den Himmel gerichtet, dichtet jeder dem anderen einen Beruf an, eine Karriere, ein Leben. Ich spüre, wie Dinah im Dunklen meine Hand sucht, sich ihre Finger immer wieder vortasten und wie zufällig über meinen Handrücken streichen. In zehn Jahren werden wir uns an heute erinnern und darüber lachen, sagt Torsten auf einmal. Und in zwanzig, sage ich, aber dann fällt mir nichts dazu ein, und der Satz bleibt unvollendet und klingt wie eine Frage. Dinahs Hand liegt jetzt auf meiner. Sind sie nicht süß, unsere Bubis, kichert Nadja, aber niemand lacht.
Meine Mutter geht mit großen Schritten von Wand zu Wand. In der einen Hand hält sie das Telefon, mit der anderen presst sie sich den Hörer ans Ohr. Das weißt du doch genau, sagt meine Mutter, sagt: Komm mir jetzt bloß nicht so. Sie wickelt sich beim Auf- und Abgehen das Kabel um die Finger, nimmt im Vorbeigehen eine Zigarette aus dem Päckchen auf dem Tisch und behält sie unangezündet zwischen den Lippen. Arschloch, sagt sie, aber da hat sie bereits aufgelegt und sitzt vornüber gebeugt am Küchentisch, den Kopf in die Hände gestützt. Hallo, sage ich leise und bleibe im Türrahmen stehen. Meine Mutter zuckt zusammen und sieht mich überrascht an: Ich habe gar nicht gehört, wie du gekommen bist.
Hör mal, sagt mein Vater, da wird sich gar nichts ändern. Er rührt in seinem Cappuccino und sieht schon wieder verstohlen auf die Uhr. Habe eigentlich nur eine halbe Stunde Mittag, sagt er entschuldigend. Also, setzt er noch mal an, was dich und mich betrifft, da musst du dir gar keine Sorgen machen. Ich nicke. Mein Vater trinkt seinen Cappuccino in großen Schlucken aus und sieht mich an. Hängt natürlich auch alles ein bisschen von deiner Mutter ab, sagt er und zwinkert mir zu. Er holt einen Schein aus seiner Brieftasche und legt ihn auf den Bistrotisch. Ich muss los, sagt er und dass ich ihn jederzeit anrufen kann. Erst als ich ihn durch die große Scheibe mit flatternder Krawatte die Straße überqueren sehe, fällt mir ein, dass er mir seine neue Telefonnummer noch gar nicht gegeben hat.
Einer muss noch runter, sagt Nadja und grinst. Alle tun so, als hätten sie es nicht gehört, aber ich habe keine Lust mehr, stehe auf und packe meine Sachen. War doch nur Spaß, mault Nadja und verdreht die Augen. Als ich gehe, glotzen mir alle nach. Ich nehme die Abkürzung über die Brücke zu den Umkleidekabinen, verschwinde in der erstbesten und will gerade die Tür verriegeln, da schlüpft Dinah hinter mir in den Verschlag. Kalt hier drinnen, sagt sie und schmiegt sich an mich, die rotblonden Härchen auf ihrer Gänsehaut sind fast durchsichtig. Dinah riecht nach Sonnencreme und Liegewiese, sie trägt ihren gelben Bikini mit den ultradünnen Spaghettiträgern. Hinter ihrem Rücken bröselt etwas hellblaue Farbe von der Kabinentür auf den nassen Steinfußboden. Sie nimmt meine Hand und legt sie auf ihre Brust. Im Spalt zwischen den Kabinenlatten und dem abgehobenen Dach steht ein Junge auf dem Fünfer und ruft immer wieder aufgeregt nach einem Thomas. Bist du verrückt, sagt Dinah, doch nicht so fest. Dinah will wissen, was eigentlich mit mir los ist. Nichts, sage ich, gar nichts.
Meine Mutter hat mir einen Zettel geschrieben. Es wird spät, steht drauf, sonst nichts. Sie hat einen 50-Mark-Schein dazugelegt und mit ihrer Kaffeetasse beschwert, der Rand der Tasse ist mit blassrotem Lippenstift verschmiert. Ich nehme das Geld und stecke es in die Tasche, lege mich aufs Bett und starre die Decke an. Langsam tastet sich die Dämmerung ins Zimmer und von unten dringen Sommerabendgeräusche herauf: irgendwo in der Nachbarschaft wird gegrillt, ein Radio läuft und eine Autotür wird zugeschlagen, jemand begrüßt Gäste. Auf einmal muss ich daran denken, wie ich als Kind abends immer die gedämpften Stimmen meiner Eltern aus dem Wohnzimmer gehört habe, und wie einer von beiden später, bevor sie selbst zu Bett gingen, noch einmal in mein Zimmer kam, um nach mir zu sehen.
Auf der Party gibt es nicht nur Bier, sondern auch Asbach-Cola und Baileys. Als ich komme, sind die Ersten bereits besoffen. Nadja und die anderen Mädchen tanzen ohne Schuhe und die Jungs sitzen mit aufgestützten Armen an der Partykeller-Theke. Wo ist eigentlich Dinah?, frage ich nach einer Weile Torsten, der als Einziger noch vollkommen nüchtern zu sein scheint. Torsten holt tief Luft und bläst die Backen auf. Keine Ahnung, sagt er, die habe ich den ganzen Abend noch nicht gesehen. Dinah kommt später und sieht mich nicht an. Sie hat einen Arm um Steffens Hüfte gelegt und lehnt ihren Kopf an seine Schulter. Steffen grinst dümmlich, weiß nicht wohin mit seinen Händen. Torsten zuckt mit den Achseln: Wusste ich echt nichts von, musste mir glauben.
Ich will schon wieder gehen, da macht er doch noch auf. Es dauert einen Moment, bis er mich erkennt. Entschuldige, sagt er, bin wohl vor dem Fernseher eingeschlafen. Im Wohnzimmer lässt er schnell etwas hinter der Couch verschwinden, bevor ich es sehen kann. Der kleine Fernseher steht mit zusammengerolltem Netzkabel in der Ecke. Alles klar?, fragt mein Vater mit schwerer Zunge. Alles klar, sage ich, dann schweigen wir. Er hat sichtlich Mühe, seinen Kopf gerade zu halten. Du kannst gern hier bleiben, sagt er auf einmal und macht mit der Hand eine vage Bewegung in den halbdunklen Raum hinein. Nein, sage ich, schon gut, hab’ noch was vor.
Nachts weht ein kühler Wind auf dem Zehner. Man kann die Lichter der Stadt von hier oben aus sehen, aber das Wasser unter einem bleibt selbst bei genauem Hinschauen unsichtbar. Ich lehne mich an das nachtkalte Geländer und warte, bis sich die Gänsehaut auf meinem Rücken wieder verflüchtigt hat. Kinderkram, denke ich, alles nur blöder Kinderkram, und dann lege ich entschlossen die Arme an den Körper, renne los und werfe mich kopfüber dem Lichtermeer entgegen, das schwarze Wasser unter mir.